In der Zeit um Weihnachten und Neujahr 2014/2015 führte die Stiftung NOIVA im Nordwesten Jordaniens ein Hilfsprojekt durch. Insgesamt 200 Freiwillige, darunter ca. 140 aus der Schweiz, haben sich in dieser Zeit für Flüchtlingsfamilien engagiert. In einem ersten Beitrag haben wir den gesamten Einsatz grob umrissen. In diesem Beitrag möchten wir ergänzend einige Höhepunkte herausheben.
25.12.2014: Anreise & Bezug des Quartiers
Nach monatelangem, intensivem Vorbereiten in der Schweiz und in Jordanien ist es endlich soweit: Knapp 140 Deutschschweizer zwischen 0 und 69 Jahren finden sich am Weihnachtstag morgens um vier am Flughafen Zürich ein – mit noch etwas verschlafenen Gesichtern, aber voller Erwartung. Ein gecharterter Airbus 319 der Helvetic bringt die Helfer, ihr Gepäck und unzählige Kartons mit Hilfsgütern nach Amman, wo sie vom lokalen NOIVA-Team herzlich empfangen werden. Das jordanische Pendant zur Tagesschau ist ebenfalls bei der Ankunft der Helfer vor Ort und strahlt noch an diesem Abend einen kurzen Bericht darüber aus. Nach kurzer Fahrt erreichen wir die Unterkunft, ein ferienhalber leerstehendes Internat. Dort wartet bereits eine Handvoll Ägypterinnen auf uns, dank ihrer Sprachkenntnisse eine besonders wertvolle Ergänzung für die Gruppe. Der Rest des Tages verfliegt wie im Nu: Zimmer beziehen, Gelände erkunden, neue Gesichter kennenlernen – und schon ist es Zeit fürs Abendessen. Da viele von uns die Nacht zuvor fast nichts geschlafen hatten, gehen wir früh schlafen.
26.12.2014: Vorbereiten der Standorte & Werbung in der Stadt
Der Tag beginnt beizeiten. Zum Frühstück à la jordanienne erscheinen erstmals unsere Volunteers: insgesamt rund 60 Einheimische, die uns als Englisch-Arabisch-Dolmetscher unterstützen. Ohne sie könnten wir unsere Arbeit hier nicht durchführen. Nach einer ersten Informationsveranstaltung werden die Helfer an die beiden Einsatzorte gefahren. Zunächst soll an den Standorten alles vorbereitet werden, auch muss man Werbung in den umliegenden Quartieren machen. In Mafraq, das im Hauptfokus des Einsatzes ist, sind die Gassen anfänglich menschenleer, da die meisten Familien gerade die traditionelle Mahlzeit nach dem Freitagsgebet geniessen. Nichtsdestotrotz finden sich die kleinen Teams jeweils nach wenigen Minuten von einer Menschentraube umringt. Bereits auf dieser kurzen Werbetour nimmt jede Gruppe Dutzende Handynummern von bedürftigen Familien auf. Mit Hilfe dieser Kontakte sollen ab dem nächsten Tag die Hausbesuche organisiert werden. Die Nachricht über unser Kommen verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und schnell wird klar, dass uns die Arbeit in diesen Tagen ganz bestimmt nicht ausgehen wird …
27.12.2014: Erstes reguläres Programm & eine besondere Einladung
Ab heute wird das volle Programm (siehe Kasten) durchgeführt. Die Helfer haben sich bereits im Vorfeld auf ihre spezifischen Aufgaben vorbereitet und nehmen diese hochmotiviert in Angriff. Der Tag verläuft planmässig. An diesem ersten Abend werden wir bei unserem Kulturprogramm in Mafraq von mehreren Hundert Besuchern regelrecht überrannt und spielen vor einem vollen Saal. Der Geräuschpegel ist konstant sehr hoch. Wir sind nach der Veranstaltung ziemlich erschöpft.
Am Abend wartet ein Highlight auf uns: Alle Helfer des Standorts Mafraq sind bei einem Scheich – einer sehr einflussreichsten lokalen Persönlichkeit – zum Essen eingeladen. Er hat zu dem Anlass weitere Prominenz eingeladen und bewirtet an diesem Abend insgesamt gegen hundert Personen. Neben anderen Köstlichkeiten gibt es vor allem Mansaf, das jordanische Nationalgericht (Reis, Lammfleisch und dazu eine Sauce aus Sauermilch und Lammfett; der Kopf thront jeweils in der Mitte der Platte). Nach dem Essen wird aus etwas Gitarrenspiel zweier Schweizer spontan ein ausgelassenes Feiern und Tanzen, gefolgt von gegenseitigen Ansprachen. Diese herzliche Begegnung ist für uns Ausländer sehr eindrücklich.
28.12.2014: Eine strategische Entscheidung & Team-Weihnacht
Der Tag verläuft planmässig. Die Einsatzverantwortlichen beschliessen, unsere Aktivitäten am Standort I einzustellen, da der Andrang am Standort II ungleich grösser ist. Die Situation der Flüchtlinge scheint in Mafraq deutlich prekärer zu sein, und so werden wir für die verbleibende Zeit sämtliches Personal und Material hier einsetzen.
Zurück in der Unterkunft, feiern wir an diesem Abend unsere ganz private Weihnacht: Alle haben im Vorfeld eine Person zugeteilt bekommen, für die sie ein kleines Geschenk mitbringen sollten. Das war gar nicht so einfach, da einige einander kaum oder gar nicht kannten. Es geht los mit einem munteren Leute-suchen-und-finden-und-Geschenke-austauschen. Dazu werden wir von den jordanischen Köchen mit einem leckeren Abendessen verwöhnt.
Wir gehen früh schlafen, da wir inzwischen wissen, wie intensiv und anstrengend die Tage sind. Eine besondere Herausforderung ist das dichte Programm für die Familien. Einige Babys sind im Tragtuch mit dabei, doch Eltern mit Kleinkindern müssen abwechselnd in der Unterkunft bleiben. Hinzu kommt, dass viele von uns etwas kränkeln – die einen mit Grippe und Erkältungen, andere mit Magen-Darm-Beschwerden.
29.12.2014: Verstärkung an Standort II & Besuch des Schweizer Botschafters
Die Gruppe am Standort II heisst die zusätzliche Unterstützung dankbar willkommen. Einige Teams müssen neu gebildet werden, doch die Umstellung gelingt reibungslos. Auch heute geht das Tagesprogramm ohne Zwischenfälle über die Bühne. Trotzdem sind wir froh über die zahlreichen Polizeibeamten: Sie geben uns etwa auf unseren Besuchstouren Geleitschutz, überzeugen die Flüchtlinge davon, dass sie vor dem Ambulatorium ruhig warten müssen, bis sie an der Reihe sind, und intervenieren wenn nötig bei Handgreiflichkeiten auf dem Gelände. Bei den Kultur-Events sorgen sie dafür, dass alles mehr oder weniger geordnet abläuft, und halten ein paar notorische Störenfriede fern.
Beim Abendessen wartet bereits das nächste Highlight auf uns: Herr Michael Winzap, der Schweizer Botschafter für Jordanien und den Irak, ist da! Er erzählt uns einige Müsterchen aus seinem spannenden, aber anspruchsvollen Alltag. Wir fühlen uns geehrt von dem hohen Besuch und freuen uns über Herr Winzaps sympathischen Bündner-Dialekt: Da fühlt man sich gleich wie zu Hause. Unter anderem sagt er einen Satz, der uns in Erinnerung bleiben wird: «Eigentlich bin ich in Jordanien der Botschafter für die Schweiz – in dieser Woche seid ihr alle es.»
30.12.2014: Ein Tag im Zaatari Refugee Camp
Heute setzen wir unser übliches Programm aus. Es ist ein besonderer Tag, der schon vor Monaten geplant und vorbereitet wurde: Wir besuchen das Zaatari Refugee Camp, zurzeit das drittgrösste Flüchtlingslager überhaupt. Es ist unter dem Patronat des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und liegt nur ein paar Kilometer östlich von Mafraq. Zurzeit leben hier etwa 85’000 Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak. Zu Spitzenzeiten beherbergte diese Zelt- und Containerstadt über 100’000 Menschen. Die Fahrt auf der Ringstrasse um das gesamte Lager herum dauert beinahe eine Viertelstunde. Wir sind schockiert vom Ausmass dieses Lagers und können uns kaum vorstellen, wie es ist, hier zu leben – in glühender Hitze, in Regen und Matsch, bei Schnee und Kälte, ohne Arbeit und Perspektive, und vor allem: auf unbestimmte Zeit.
Nach der Begrüssung durch den Leiter des Zaatari-Camps und einem kurzen Briefing werden wir in kleinen Gruppen in verschiedene Distrikte gefahren. Wir haben jede Menge Material dabei, um möglichst vielen Flüchtlingen eine Abwechslung von ihrem oft freudlosen Alltag zu bieten. Damit es kein Chaos gibt, mussten sich die Interessierten für unsere Veranstaltungen einschreiben. Im Angebot ist ein vielseitiges Programm: Breakdance für Jungen, Dance-Aerobic für Mädchen, Fussball, Unihockey, ein Informatikkurs zum selbständigen Programmieren einfacher Websites sowie ein Kulturprogramm für Kinder und Erwachsene. Dabei begleiten uns Mitarbeiter der Organisation International Relief & Development (IRD). Sie sind im Zaatari-Camp für soziale Aufgaben verantwortlich und führen unter grossem Einsatz ihre ebenso wichtige wie herausfordernde Arbeit aus. Wir begegnen unzähligen Kindern, die sehr zutraulich sind und uns gar nicht nah genug sein können. Ihre strahlenden Augen machen uns glücklich. Ein IRD-Mitarbeiter meint, er hätte diese Kinder noch selten so ausgelassen und fröhlich gesehen. Die Gesamtsituation rührt viele von uns zu Tränen.
31.12.2014: Angespannte Stimmung & Silvester verschlafen
Als wir morgens gegen halb zehn nach einstündiger Fahrt aus den Bussen steigen, sind bereits zahlreiche Frauen und Kinder auf dem Platz vor der Mehrzweckhalle versammelt. Wir sind froh, zurück zu sein und bekannte Gesichter wiederzusehen. Zu vielen der regelmässigen Besucher hat sich inzwischen eine Freundschaft entwickelt. Die Kinder kennen einige unserer Namen und rufen sie laut aus, sobald sie die betreffende Person von weitem erblicken. Wir beginnen mit dem üblichen Programm. Die Besuchstouren werden allmählich etwas schwieriger. Offensichtlich hat es sich herumgesprochen, dass wir Hilfsgüter abgeben. Wo immer unsere Busse auftauchen, werden wir rasch von Anwohnern umringt, teilweise bedrängt: Mit dem Mut der Verzweiflung versucht jeder, etwas für sich zu ergattern. Wenn wir uns mit einer Familie hinsetzen, Tee trinken und sprechen, kann es passieren, dass sich der Raum innert Minuten mit Nachbarinnen, Verwandten und Freundinnen füllt, die uns überreden wollen, auch zu ihnen zu kommen. Wir tun, was wir können, müssen aber auch einige Leute enttäuschen. Das ist sehr deprimierend.
Auch am Standort ist eine verstärkte Unruhe spürbar. Wir hören, dass die UNO im neuen Jahr an Flüchtlinge ausserhalb der Lager keine Essensmarken mehr abgeben wird. Wovon sollen die Menschen leben? Vielleicht sind einige zusätzlich angespannt, weil sie wissen, dass morgen unser letzter Tag ist. Viele hoffen und warten immer noch darauf, von einem unserer Teams besucht zu werden, doch wir können nichts versprechen. Unser Vorrat an Lebensmittelpaketen neigt sich dem Ende entgegen, die Zeit wird knapp. Einige von uns werden nachdenklich: Wir möchten noch so viel mehr tun, doch die Stunden zerrinnen uns zwischen den Fingern. Wir erleben an diesem Abend einen super Kultur-Event mit Tiefgang, ein guter Abschluss für einen Tag, den viele als schwierig erlebten. Ans Silvesterfeiern denken wir nicht im Traum, sondern sinken müde in unsere Betten, um am nächsten Tag für noch einmal fit zu sein.
1.1.2015: Endspurt & ein schwerer Abschied
Diesen Tag nutzen wir bis zur letzten Minute, indem wir so viele Besuche machen wie nur möglich. Mitte Nachmittag gehen uns die Lebensmittelpakete aus, doch wir verteilen weiterhin Kleider, Müesliriegel und was wir sonst noch im Lager finden. Der Kultur-Event ist unser gemeinsamer Abschluss. Alle zusammen singen wir ein arabisches Abschiedslied. Danach heisst es Zusammenräumen und Abschied nehmen – teils mit Lachen und Winken, teils mit Umarmungen und Tränen. Einige Kinder und Frauen machen gar keine Anstalten, den Raum zu verlassen: Sie bleiben, bis wir alle in die Busse gestiegen sind, und winken uns nach, als wir mit einiger Verspätung schliesslich wegfahren. Es ist ein emotionaler Moment, den die Einzelnen auf ganz unterschiedliche Art bewältigen.
2.1.2015: Nochmals Abschiednehmen & Rückreise
Nach dem Frühstück versammeln wir uns mit dem Gepäck auf dem Parkplatz. Die meisten Koffer sind deutlich leichter geworden. Die Fahrt bis zum Flughafen ist kurz. Dem kleinen NOIVA-Team, das im August nach Jordanien ausgewandert ist, fällt der Abschied alles andere als leicht – sie haben viele gute Freunde und auch einige Verwandte unter den Schweizer Helfern.
Vom Gate aus beobachten wir, wie das Helvetic-Flugzeug ankommt. Auf dem Hinflug von Zürich hat es nur einen einzigen Passagier und dessen „persönliches Gepäck“ – ein paar Tonnen Hilfsgüter in Kartonschachteln – befördert. So können nun ein paar weitere Tonnen Hilfsgüter dem lokalen NOIVA-Team übergeben werden, das die Verteilung organisieren wird. Uns, die wir in wenigen Stunden wieder Schweizer Boden betreten werden, tröstet der Gedanke, dass dieser Einsatz keine Eintagsfliege war: Es geht weiter!