Die Geschichte einer jungen Syrierin – Wir sind dankbar, wenn wir mithelfen können, dass Menschen wieder träumen können.
„Ja, es ist etwas kalt. Zumindest in der Wohnung“. Rukaya sitzt mit einer blauen Winterjacke am Tisch in ihrem Zuhause in Al Mafraq, Jordanien. Die Kapuze hochgezogen.
Soeben hat Rukaya die Physikprüfungen an der Universität Zarqa abgelegt und geniesst einige Wochen Ferien. In rund einem Jahr wird sie ihr Bachelorstudium in Physik abschliessen.
Als 2011 in Syrien der Krieg ausbrach, war Rukaya bereits mit ihrer Familie in Jordanien. 2010 haben sie Syrien verlassen – mit dem Ziel nach einigen Jahren mit mehr Ersparnissen zurückzukehren und ihr Haus weiter auszubauen. Daraus ist nichts geworden. Das Zuhause in Aleppo, das sich die Familie als Angestellte auf einer Hühnerfarm hart erarbeitet hat, wurde zerstört.
„Als der Krieg in Syrien ausbrach, wurde die Situation für SyrierInnen in Jordanien etwas angenehmer“, meint Rukaya. Führten sie zuvor ein isoliertes Leben – ähnlich wie damals als Aussenseiter in Syrien – war die Gastfreundschaft und Empathie gegenüber ihnen in Jordanien nach dem Kriegsausbruch etwas grösser.
Ihre fünf älteren Schwestern, die zunächst mit ihrem Vater in Jordanien im Gemüseanbau tätig waren, haben sich alle bis auf Eine mit Partnern niedergelassen und eigene Familien gegründet. Übrig bleibt Rukaya, mit ihrem jüngeren Bruder und der unverheirateten Schwester. Ein weiter Bruder lebt in Deutschland und einer mit seiner Frau in Jordanien.
Als jüngste Schwester hatte Rukaya damals die Möglichkeit in Jordanien die Grundschule zu besuchen. Sie war jeweils die beste in der Klasse. Die LehrerInnen mochten sie. Von den MitschülerInnen fühlte sie sich jedoch ausgeschlossen. Nach der Schule ging sie jeweils Gemüse und Früchte auf der Strasse verkaufen – ihr Beitrag zum Familieneinkommen.
Anfänglich fühlte sich Rukaya isoliert in Jordanien. Isoliert wie damals auf der Hühnerfarm in Syrien. Ausgeschlossen aus der Gesellschaft. Alleine gelassen mit ihren Problemen.
Zuhause in Syrien hatten sie selten Besuch. Der Alltag bestand aus der Arbeit auf dem Hof. Dazu kam, dass ihre Mutter aufgrund von gesundheitlichen und mentalen Problemen sich nicht um die Kinder kümmern konnte – so wie es eine Mutter gerne machen würde. Die älteren Schwestern haben diese Rolle übernommen. Lass uns jedoch nochmals von vorne beginnen.
Rukaya hatte schon damals als kleines Kind grosse Träume. Die Sterne haben Rukaya fasziniert – das Universum. Die Weite ausserhalb dieser Welt. Von klein auf träumte sie davon Astronautin zu werden.
In der Schule in Jordanien stellte sich heraus, dass sie nebst einer Faszination für Astronomie, auch ein unglaubliches Talent für Mathematik und abstraktes Denken besitzt. Danach hat sich eins nach dem anderen ergeben: vom Englisch Lernen, zum Unterrichten, Arbeiten als Freiwillige bis zum Physikstudium an der Universität Zarqa. Sie überliess es jedoch nicht dem Zufall.
„Eine Vergangenheit geprägt von Leid ist wie eine Waffe zu besitzen, die in zwei Richtungen schiessen kann“, erklärt Rukaya. Sie hat sich für das Vergeben, Wachsen und Weitermachen entschieden. Mit 15 Jahren kam sie in Kontakt mit verschiedenen Organisationen in Jordanien. Eine davon war Noiva. Dort hat sie Menschen angetroffen, die ihr zuhörten und Halt gaben. Ein Ort zum Austauschen, sich nicht mehr so alleine mit den Problemen zu fühlen. Sie nahm die Möglichkeit wahr, an Tätigkeiten teilzunehmen, sich weiterzubilden und Erlerntes selber danach als Freiwillige verschiedener Organisationen weiterzugeben, sei es als Dolmetscherin Arabisch-Englisch oder als Coach in den Bereichen berufliche Weiterbildung und Jobsuche. Auf diesem Weg versuchte sie immer ihrem Herzen zu folgen.
Als ihr traditionell aufgewachsener Vater einer syrischen Beduinenfamilie damals erkannte, dass Rukaya durch ihre Arbeit als Freiwillige viel Respekt und Ansehen genoss – insbesondere auch von Älteren – hat dies auch für ihn eine neue Welt der Möglichkeiten für seine jüngste Tochter eröffnet.
Als Rukaya damals auf ihren Vater zuging, dass sie nicht den traditionellen Weg von „Heiraten, Familie haben und zu Hause sein“ einschlagen möchte, ist dieser Wunsch bei ihm auf Anklang gestossen. Sie ist nun die erste ihrer Familie die studiert. Frauen an der Universität in Az Zarqa‘ sind in der Mehrzahl. Auch am Physikinstitut studieren inzwischen mehr Frauen als Männer.
So wie sie sich diese Chance nie erträumt hätte vor einigen Jahren – oder eben doch? – glaubt sie an ihren Traum einst als Astronautin ins All zu fliegen. „Träume sind hier, um Träume zu sein“, sagt Rukaya. „Sie können aber auch wahr werden“. Mit grosser Motivation und Faszination für Physik und mit Zuversicht sowie Weisheit, die sich noch viele in ihrem Alter von 20 Jahren erträumen, strebt sie ihrem Vorhaben nach. Ein Stipendium für ein Masterstudium in Physik in Deutschland ist ihr nächster Plan: den Spuren von Einstein zu folgen.
Einstein sagte einst: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.” Ich musste an dieses Zitat denken als ich mit Rukaya sprach. Sie ist herzlich, solidarisch und hat sich trotz all dem Leid, das sie erfahren hat, entschieden, der Diskriminierung, dem Krieg, der Isolierung, denen sie ausgesetzt war, mit einer Menschlichkeit und einem Optimismus zu begegnen und im Leben stets mutig Neues auszuprobieren.
Wir wünschen dir alles Gute Rukaya!
Autorin: Denise Staubli
Quelle: Interview mit Rukaya im Februar 2023, geführt von Denise Staubli