Artikel von der Stiftung Zürcher Kinder und Jugendheime – Einsatzteilnehmerin Kathrin im Oktober 2022
«Die Woche war geprägt von vielen kleinen und grossen Momenten, lauten und leisen Tönen, Menschlichkeit, Gastfreundschaft und viel Herzenswärme. Unsichtbares wurde sichtbar. Es war mir ein Anliegen, eine Freude und Ehre, etwas von meiner Zeit und meinen menschlichen Ressourcen abzugeben. Einen kleinen Beitrag – für Menschlichkeit, Gesehenwerden und kurze Momente der Unbeschwertheit – zu leisten. Unbezahlbar für beide Seiten.»
Dieses Zitat von Kathrin habe ich auf einem Social-Media-Kanal gelesen. Und es hat mich «gwundrig» gemacht. Ich wollte mehr erfahren von Kathrin und ihrem Aufenthalt in Jordanien. Ich treffe sie kurz vor Weihnachten im Intermezzo zum Gespräch.
Was hat dich motiviert, dich in der Flüchtlingsarbeit in Jordanien zu engagieren?
Grundsätzlich führe ich ein privilegiertes Leben. Ich bin gesund, konnte die Schule besuchen, ein Studium absolvieren, kann einer Arbeit nachgehen, die mir gefällt, habe eine Familie und lebe in einem sicheren, demokratischen Land mit funktionierender Infrastruktur und Meinungsfreiheit. Das heisst nicht, dass ich keine Probleme habe oder nicht auch mal traurig bin. Aber aufgrund des Privilegs, welches ich rein durch die Geburt in einem sicheren Land habe, ist es mir ein Anliegen, mich für Menschen, welche weniger privilegiert sind, einzusetzen, zu engagieren und etwas abzugeben. Dies nicht nur in Form von Geld, sondern vor allem auch Zeit.
Es liegt in meiner Natur, mich für Menschen in Not einzusetzen. Ich bin in Brasilien aufgewachsen und habe früh mitbekommen, dass es ohne persönliches Zutun Unterschiede gibt – Arm / Reich – und dies Auswirkungen auf das persönliche Leben hat.
Seit längerer Zeit schon war es mein Wunsch, mich im Ausland zu engagieren. Da ich aus familiären Gründen jedoch nicht längere Zeit wegfahren kann, bin ich auf die Stiftung NOIVA gestossen, die Programme für kurze Einsätze anbietet. Und zu Jordanien und Syrien habe ich einen speziellen Bezug, da ich längere Zeit in Israel gelebt habe und viel durch diese Nachbarländer gereist bin.
Wie sieht ein Tag als Volontärin aus?
Wir waren eine Gruppe von vier Schweizer Volontärinnen, welche in Amman (Hauptstadt Jordaniens) einquartiert war. Täglich sind wir zusammen mit einigen NOIVA-Mitarbeitenden morgens noch vor sechs Uhr losgefahren, denn die Wege in den Norden nach Mafraq und Azraq in das Flüchtlingscamp waren lang. Dort angekommen, haben wir ausgepackt, alles für den Tag vorbereitet, und dann kamen auch schon die ersten Kinder.
Der Schwerpunkt dieser Projektwoche war Gesundheit. So konnte z.B. jedes Kind einmal mit dem Stethoskop hören, wie sein Herz schlägt, auf einer Zeichnung sehen, wie ein Skelett aufgebaut ist, aber auch Themen wie Zahnpflege und Hygiene gehörten dazu. Und natürlich haben wir viel gemeinsam gesungen, getanzt, gemalt und gespielt.
Am Nachmittag gingen wir Volontärinnen – mit einheimischen Übersetzern – auf Hausbesuche zu den syrischen Flüchtlingsfamilien. Hier hörten wir zu, trösteten, lachten zusammen, tranken Tee und spielten mit den Kindern. Am späten Nachmittag sind wir zurück nach Amman gefahren, dort fand ein Debriefing statt, und wir organisierten den nächsten Tag. Abends kurz vorm Schlafengehen trafen wir Volontärinnen uns jeweils auf der Dachterrasse unseres Quartiers, um uns über das Erlebte am Tag auszutauschen – das war wichtig für uns alle.
Auch hier möchten manche Mädchen gerne Prinzessinnen sein / Flüchtlingscamp Azraq
Was hat dich besonders berührt?
Egal welcher Herkunft man ist, gewisse Gefühle und Empfindungen sind gleich. So verschieden wir Frauen sind, Gefühle wie Freude, Eifersucht, Trauer, Angst, Sorge um die Kinder und Humor – der uns verbindet – sind überall gleich. Die Offenheit der Frauen, mich in ihren Kreis zu lassen und mir aus ihrem Leben zu erzählen, hat mich berührt. Auch hatten sie viele Fragen an mich, über welche wir uns hier in der Schweiz gar keine Gedanken mehr machen müssen. Zum Beispiel, ob ich es besser fände, wenn ein Mann nur mit einer Frau verheiratet ist, oder warum bei uns die Männer nur mit einer Frau verheiratet sein dürfen? Es waren verschiedene Lebensbilder, die da zusammenkamen.
Ein lustiges Erlebnis hatte ich mit einer syrischen Frau beim Einkaufen von Lebensmitteln. Der Fahrer hat uns beim Kaufhaus abgesetzt. Da waren wir zwei, ich, die Arabisch weder sprechen noch lesen kann, und sie, Analphabetin. Wie wollten wir einkaufen? Für einen Moment fühlten wir uns hilflos, und mussten dann beide lachen. Das Gefühl der Verbundenheit, das sich aus diesem Alltagsmoment ergab, hat uns beide berührt.
Aufgewühlt hat mich ein 12-jähriger Junge. Er wollte in der Pause nicht Fussball spielen, weil er zu müde war. Nach mehrmaligem Nachfragen gab er schamvoll und verängstigt zu, dass er die ganze Nacht habe arbeiten müssen, damit sich seine Familie etwas zu essen kaufen konnte. Und als er am nächsten Tag sein Znüni nicht ass, um es seinen kleineren Geschwistern nach Hause zu bringen, hat mich dies fassungslos und traurig gemacht. Die Stiftung NOIVA hat sogleich reagiert und ist am Nachmittag mit mir zu seiner Familie gefahren, um zu schauen, ob und wo wir eventuell konkret unterstützen können. Vor Ort haben wir – auch in dieser Familie – schreckliches und unfassbares Leid vorgefunden.
Meine Erkenntnis nach dieser Woche ist, dass Bildung zweitrangig ist, wenn der Bauch leer ist. Erst wenn man satt ist und weiss, wie man zur nächsten Mahlzeit kommt, kann Bildung wichtig werden.
Improvisationstheater / Azraq Flüchtlingscamp
Du hast bereits einen intensiven und anspruchsvollen Berufsalltag im Intermezzo, wie kommt es, dass du dich in den Ferien engagierst?
Mein Berufsalltag ist sehr anspruchsvoll, das ist so. Es war ein Versuch, ob ein solches Engagement in den Ferien möglich ist. Für mich hat sich gezeigt, dass ich eine Person bin, die so auftanken kann. Ich bin gerne unter Menschen, und bei dieser Arbeit bekam ich sehr viel zurück.
Hat sich dein Blick auf deine Arbeit in der Schweiz durch diesen Aufenthalt verändert?
Ein Mitarbeitender aus dem Intermezzo kam am ersten Arbeitstag, vor meiner Begrüssung der Mitarbeitenden, auf mich zu und meinte: «Du sagst jetzt aber nicht allen, wie gut wir es hier haben und wie dankbar wir sein müssen.» Ich musste schmunzeln. Nein, das mache ich nicht, denn wir haben hier unsere eigenen Herausforderungen, die wir täglich meistern müssen. Das sehe ich natürlich. Aber in mir drin hat sich etwas verändert.
Du hast eine Woche mit Flüchtlingen vor Ort verbracht. Kann man in so «kurzer Zeit» überhaupt etwas bewegen?
Bewegen ist ein grosses Wort und schwierig zu messen. Mir ist bewusst, dass ich nichts an der Weltsituation ändern kann oder wirklich Entwicklungsarbeit geleistet habe. Aber ich konnte etwas von meiner Zeit abgeben, den Menschen zuhören, an ihrem Leben teilhaben, wenn sie von ihrer Heimat und ihrem früheren Leben erzählten, und so für kurze Zeit ihre Situation vergessen konnten. Echtes Mitgefühl und Zeit abgeben, die Menschen wahrnehmen, das ist es. Jeder von uns möchte gesehen werden, das ist so wichtig. Eine gewisse Langfristigkeit hinterlassen meiner Meinung nach solche Einsätze trotzdem, denn die Volontäre gehen in die Welt hinaus und sprechen über das Erlebte und Gesehene. Sie sind das Sprachrohr. Sie können dadurch etwas bewegen, auch wenn es noch so klein ist. So konnte ich meinen Freundeskreis sensibilisieren und mobilisieren, u.a. die Familie des 12-jährigen Jungens finanziell zu unterstützen. Durch diese kleine Geste und einem dadurch hoffentlich gefüllten Bauch wird eventuell die Saat für Bildung gelegt. Um etwas zu bewegen, ist die Zeit damit gar nicht so kurz. Und meine nächste Reise nach Jordanien ist bereits in Planung …
Warten auf das Fussballspielen. Mohamed Salah ist ihr grosses Idol / Turnhalle Mafraq